mit Wolfgang Holtz, ehem. Leiter des Heimatmuseums Steglitz
Boothstraße – 600 Meter voller Geschichten und Geschichte –
Fotos Peter Hahn | Text Jutta Goedicke
Unser Kiezspaziergang beginnt mit einer kleinen Drehung um die eigene Achse an der Boothstraße Ecke Jungfernstieg. Außer der weißen Villa Aron, Ecke Bruno-Walter-Straße, stehen hier nur Siedlungsbauten aus den 60er Jahren und ein Seniorenpflegezentrum. Könnten wir die Zeit jedoch um mehr als hundert Jahre zurückdrehen, gäbe es hier ein lebhaftes Treiben von Pferdewagen, die zum Bahnhof Lichterfelde Ost fahren oder hier im 1870/71 von Johannes Otzen erbauten Gesellschaftshaus einkehren. Umgeben von einem schattigen Park mit See gab es am Jungfernstieg 14 ein Restaurant mit angeschlossener Pension. Verschiedene Säle, eine Kegelbahn, Billardtische und ein Lesesalon zogen wohlhabende Besucher aus dem nahen Berlin an, die aber aufgrund anderer Ausflugsziele nach und nach ausblieben. Um 1889 bauten der Arzt Dr. Goldstein und der Kaufmann Jaques Aron das Gesellschaftshaus zu einem Nervensanatorium um, das später auch die Frau von J. Aron, die an einem Nevenleiden litt, aufnahm. Beide Gebäude überstanden den Krieg, aber nur die Villa Aron steht noch heute und ist inzwischen als Bau- und Gartendenkmal ausgewiesen. Das Gesellschaftshaus, teilweise ausgebrannt, wurde noch nach dem Krieg von der Jüdischen Kultusgemeinde und später als Altersheim genutzt. 1962 wurde es abgerissen und mit zweistöckigen Mietshäusern bebaut.
Auffällig am Straßenverlauf ist hier der Bogen, den der Jungfernstieg in die Boothstraße macht und der schon auf alten Karten zu entdecken ist. Der Straßenbahn der Teltower Kreisbahn kam diese sanfte Kurve sicherlich recht, um über die Schmalspurgeleise auf der linken Straßenseite der Boothstraße weiter bis nach Steglitz zu fahren. 1922 wurde der Betrieb eingestellt.
Die Villa Boothstraße 1, mit ihrem weitläufigen Garten wurde im Krieg zerstört und durch die Bebauung mit Reihenhäusern ersetzt. Überhaupt ist das der Teil der Boothstraße, der kaum noch an die einstige Vorzeigestraße des Carstenn’schen Siedlungsgebietes erinnert. Schade auch, dass die erhaltene, klassizistische Villa Nr. 2 von 1875 hinter einer hohen Hecke nahezu verschwunden ist. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erinnert eine Gedenktafel an den Wohnort des Ingenieurs und Dichters Heinrich Seidel in der Boothstraße 29, der 1895 nach Lichterfelde kam und 1906 hier verstarb. In einem, wie er selbst schrieb „sonderbaren Doppelleben“ plante er einerseits z. B. die Dachkonstruktion des Anhalter Bahnhofs mit einer Spannweite von 62,5 Metern und schrieb andererseits Gedichte und Erzählungen wie das Buch „Leberecht Hühnchen“.
An der nächsten Straßenecke zur Marienstraße hat man die Boothstraße mit 300 Metern genau in ihrer Hälfte durchlaufen. So unscheinbar uns die Ecke erscheint, war es stadtplanerisch jedoch ein Ort, der sowohl für Carstenn als auch für seinen Gartenbaudirektor John Booth bedeutungsvoll gewesen sein muss. Für den einen war es der Blick in die Mittelachse seiner geometrischen Straßenanordnung (Carstenn-Figur, Erklärung siehe unten) und auf den Marienplatz, und für den anderen war es ein gestalterischer Kontrapunkt, an dem die Straßenbäume von Linden auf Kastanien in der Boothstaße und zu Ahorn in der Marienstraße wechselten. Glücklicherweise blieben viele der im unteren Bereich der Boothstraße liegenden Villen vom Krieg verschont. Zum Teil stehen sie unter Denkmalschutz wie die weiße Villa Nr. 22, die 1893/94 von P. Engel erbaut wurde, bzw. unter Ensembleschutz wie die Häuser Nr. 15, 16 auf der rechten Straßenseite und 19, 20, 20a auf der linken Straßenseite. Das Haus mit der Nr. 13/14 erhielt seinen rechten Flügel erst in den 1970er Jahren und ist nicht im Ensemble eingeschlossen.
Nach einem Gepräch am Zaun durften wir das Haus von innen besichtigen
Einen völlig anderen Stil weist das Haus Boothstraße 15 Ecke Hartmannstraße (1886/87 von Richard Reinhold Hinz) auf. Ein freier Vorgarten mit mächtiger Buche, zwei überdachte Holzveranden und ein spitzer Giebel zeugen eher von einem Landhaus als von einer Villa. 1906 zog die Großmutter der jetzigen Bewohnerin nach ihrer Heirat mit … Sprunck (Pianofortefabrik Fr. Sprunck, Hettstedt) vom Nachbarhaus hier ein. In einem netten Gespräch am Zaun und bei einer spontanen Besichtigung des Hauses erfuhren wir etwas mehr über das Leben der Familie und über die ursprüngliche Ausstattung des Hauses.
In der gegenüberliegende Villa Nr. 20a, die erst 1936/37 von Otto Ortel gebaut wurde, befindet sich heute die Äthiopische Botschaft. Zusammen mit der hochherrschaftlichen Villa Boothstraße 20 (1903/04 von Frederichs & Grossmann) bildete dieses 11.000 m² große Grundstück einst das Anwesen von Arthur Schwarz, dem Gründer der Neuen Photographischen Gesellschaft, der seinerzeit größten Fotofabrik der Welt. Im Garten, der heute in etliche kleinere Grundstücke aufgeteilt ist, gab es um 1900 Tennisplätze und einen großen Swimmingpool. Über die Ausstattung des Wohnzimmers mit einer Reproduktion des Alexanderfrieses von Bertel Thorvaldsen berichteten wir bereits 2014 an dieser Stelle. Zur Straße hin beeindruckt das schwere Eisentor mit Blättern und Fruchtständen von Buchen und Eichen.
Auf der rechten Straßenseite gehörte das Eckgrundstück Boothstraße 16 (1891/92 von Haseloff & Kurtz) einst Wilhelm Ludwig Werner Genest, der als Ingenieur frühzeitig die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Telefon- und Telegrafenbaues erkannte. Zusammen mit Wilhelm Mix gründete er 1879 die Firma Mix & Genest, die durch eigene Erfindungen und Patente und durch die industrielle Mengenproduktion ein Pionier auf dem Gebiet der Schwachstromtechnik und der Signalübermittlung wurde. </spa
Das bescheidene einstöckige Nachbarhaus Nr. 17, das ohne Stuck und aufwändige Anbauten auskam, baute Gustav Lilienthal seinem Bruder Otto Lilienthal, dem Flugpionier. Von einer Rampe im Garten aus absolvierte Otto unzählige Probesprünge mit seinen selbstgebauten Flugapparaten. Eine Zeit lang hielt sich die Familie auf dem Grundstück vier Störche, die für Lilienthal schon in früher Jugend inspirierend waren. Das Haus wurde im Krieg zerstört. Die Gedenktafel links an der Hauswand ist von der Straße aus leider kaum zu erkennen.
Versetzt man sich in die Zeit der Entstehung der Villenkolonie Lichterfelde, wird man feststellen, dass es besonders im Bereich westlich der Anhalter Bahn um eines der Herzstücke Carstenns ging. Nicht nur, dass er mit der Anordnung der Straßen seine charakteristische „Carstenn-Figur“ schuf, sondern dass hier besonders große Grundstücke mit individuellen Villen gebaut wurden. Grundstücke, deren Hausnummern heute mit dem Zusatz von „a“ bis „i“ gekennzeichnet sind (z. B. Boothstraße 1 und 20) oder deren Zaun über mehrere Grundstücke gleich bleibt (z. B. Nr. 2 und 20). Auch wenn alle beschriebenen Persönlichkeiten hier nicht zur gleichen Zeit wohnten, sprechen die Namen von Heinrich Seidel, Wilhelm Ludwig Werner Genest, Otto Lilienthal und Arthur Schwarz dabei für sich, dass die Boothstraße ein besonderes historisches Flair hat, das es zu bewahren lohnt.
Die Carstenn-Figur ist eine regelmäßige städtebauliche Straßenstruktur mit einer Allee und Plätzen im Zentrum, die von einem umlaufenden Straßenzug abgeschlossen wird. Am besten ist dies auf einem Stadtplan nachzuvollziehen. Beispiele: Oberhofer Weg mit Petruskirche als Platz und der Grabenstraße als nicht ganz vollständig umlaufender Straßenzug im Bereich des Friedhofes Lange Straße. Marienstraße mit Marienplatz, der ursprünglich für den Bau einer Kirche vorgesehen war und Hochbergplatz, der von der Bogenstraße auch hier nicht vollständig umlaufen wird. Saaleckplatz, der von der Kaiserstraße perfekt eingerahmt ist.
John Cornelius Booth 2.11.1836 – 5.2.1909
Die Familie Booth stammte aus Schottland, wo sie Baumschulen besaß. Nach ihrer Einwanderung 1795 gründete der Großvater von John Cornelius Booth eine Baumschule bei Hamburg, die der Sohn später vergrößerte und modernisierte. Durch die Bekanntschaft mit Johann Anton Wilhelm von Carstenn (1822-1896), dem Gründer der Villenkolonie Lichterfelde, war er an der gärtnerischen Planung Lichterfeldes wesentlich beteiligt und lieferte aus seiner Baumschule in Charlottenburg für 125.000 Reichsmark Eichen, Linden und Kastanien, die heute das Bild unserer Straßen bestimmen. Als Privatier zog er um 1900 vom Kurfürstendamm 114 nach Lankwitz in die Mozartstraße 37-39.